Rezension | N.K. Jemisin – Zerrissene Erde
„Beginnen wir mit dem Ende der Welt, ja?
Bringen wir es hinter uns und wenden wir uns dann interessanteren Dingen zu.“
Inhalt
Die Welt stirbt – zum wiederholten Male.
In einer von Naturkatastrophen gebeutelten Welt hat sich mitten durch das Land Sansia ein riesiger, mit Lava gefüllter Riss aufgetan. Die Menschen und die Tiere kämpfen um ihr Überleben und fallen immer mehr dem Wahnsinn anheim.
Inmitten des Chaos um sie herum, muss Essun auch noch ihr eigenes unter Kontrolle bekommen. Sie verfolgt den Mörder ihres Sohnes und Entführer ihrer Tochter durch die sterbende Welt. Essun sucht inmitten des Ascheregens nach Spuren des Mannes, mit dem sie ihr Heim und ihr Herz geteilt hat. Doch der Kampf ums Überleben hat gerade erst begonnen.
Meinung
Der Stil.
„Zerrissene Erde“ ist etwas Besonderes. Der Schreibstil von N.K. Jemisin ist anspruchsvoll, ungewöhnlich und herausfordernd. Manchmal malerisch, manchmal poetisch. Und manchmal so zuvorkommend und brachial wie ein Vorschlaghammer. So verfolgt der Leser die Geschichte zwar zu großen Teilen in der gewohnten personalen Erzählperspektive, doch in manchen Kapiteln wird man direkt angesprochen. Die Zerrissenheit des Charakters und der Welt kommt dadurch noch mehr zum Tragen, wird direkt fühlbar, denn man merkt, dass sich die Persönlichkeit der Figur in einer Art und Weise aufgespalten hat, die sich so fremd anfühlt, dass man sich zwar als Leser angesprochen fühlt, aber gleichzeitig auch weiß, dass man gar nicht gemeint ist und sich nur in einem inneren zwiespältigen Gespräch befindet. Die Erzählstränge muten am Anfang sehr unzusammenhängend an, werden aber immer weiter auf faszinierende Weise verflochten.
Das Setting.
„Wenn wir sagen: ‚Dies ist das Ende der Welt‘, ist das für gewöhnlich eine Lüge, denn dem Planeten geht es immer noch gut.“
Der Leser begibt sich gemeinsam mit den Charakteren auf die Reise durch das Land Sansia, ein von Naturkatastrophen gebeutelter Kontinent. Ob es noch weitere gibt, erfährt man nicht. Die Mischung aus High Fantasy und dystopischem Setting ist spannend und zugleich aufreibend. Einerseits hatte ich beim Lesen immer wieder das Gefühl, dass die Zeit einer modernen Zivilisation schon vorbei ist und die Menschheit sich durch diverse Katastrophen schlicht verändert hat, auch im genetischen Sinne. Andererseits war alles so unbekannt und innovativ, dass ich mir an manchen Stellen sicher war, dass ich mich in einer phantastischen postapokalyptischen Welt bewege, die sich erschreckenderweise an bestimmten gesellschaftlichen Strukturen und Einstellungen orientiert, und das gerade an denen, von denen man sich wünscht, dass es sie nicht geben würde. Sansia ist getränkt von Angst, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus und missbräuchlichen Machtstrukturen und macht es einem nicht leicht, sich als Leser darin überhaupt zurecht zu finden wollen.
Die Charaktere.
Über die einzelnen Charaktere möchte ich nicht allzu viel verraten, da gerade die Erkundung ihrer Persönlichkeiten einen Großteil meines Leseerlebnisses ausgemacht haben. Als Leser folgt man drei Frauen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Drei Frauen, in drei unterschiedlichen Stadien des Lebens. Selten bin ich auf so vielschichtige Figuren getroffen, die sich mir trotz aller Nähe so oft auch wieder entzogen haben und schwer zu fassen waren. Ihre Charakterzüge sind geprägt von ihren Erlebnissen in dieser harschen, hasserfüllten und gebeutelten Gesellschaft und auch ihre Erziehung spielt eine große Rolle. Gesellschaftliche Konflikte, der Aufbau immer neuer Strukturen durch die diversen katastrophalen Naturereignisse und der Umgang mit dem Anderssein einzelner Bevölkerungsgruppen stehen oft im Mittelpunkt der Charakterentwicklung. Besonders das Thema des Wertes eines Menschen wird oft hervorgehoben, da die sansische Gesellschaft die Meinung vertritt, dass eine Auslese aufgrund des möglichen Nutzens für das Vorankommen der Menschheit gerechtfertigt ist.
Die Geschichte.
„Sagt ihnen, sie müssen sich den Respekt verdienen, den alle anderen von allein erhalten.
[…] Dann werden sie sich bei dem Versuch, etwas zu erreichen, was sie niemals erlangen können, selbst zerstören.“
Ich habe selten mit einer Geschichte so gekämpft, mit mir selbst beim Lesen einen Kampf ausgetragen. Man wird als Leser in eine Welt hineingeschleudert, für die das Wort unwirtlich eine sehr höfliche Umschreibung ist. Ich musste mich zurechtfinden, mir alles genau anschauen, meine ganze Aufmerksamkeit in eine Umgebung stecken, in der ich nicht sein wollen würde. Es gab keinen Moment des Aufatmens, des Wohlfühlens.
Der Weltenbau in „Zerrissene Erde“ ist komplex, ausgeklügelt und innovativ, aber erfordert sehr viel Zuwendung. Der Jahrtausende umspannende geschichtliche Hintergrund und das Magiesystem sind Herausforderungen, die gemeistert werden wollen, und bei dem die Autorin den Leser nicht an die Hand nimmt (Anmerkung: der Verlag aber schon, denn es gibt in der deutschen Übersetzung im Anhang ein paar Erklärungen).
Thematisch war dieses Buch für mich ein Schlag in den Magen. Ich musste Pausen beim Lesen einlegen, weil es mich so sehr mitgenommen hat, andererseits war da dieses Bedürfnis immer weiter zu lesen. Die Atmosphäre ist durchweg düster und bedrohlich und die expliziten Darstellungen von Gewalt und Missbrauch sind nicht für jeden Leser geeignet. Dennoch war dies nie Effekthascherei, sondern essentiell verbunden mit Weltenbau und Charakterentwicklung.
In der ganzen Zeit, in der ich Bücher aus dem phantastischen Bereich gelesen habe, ist mir selten ein solches Werk untergekommen. N.K. Jemisin dehnt die Genregrenzen nicht nur, sie schert sich einfach nicht drum. Daher kann „Zerrissene Erde“ nicht nur Liebhaber klassischer High Fantasy ansprechen, auch Leser anspruchsvoller Endzeitromane können hier auf ihre Kosten kommen.
Das Fazit.
„Zerrissene Erde“ ist der faszinierende Auftakt zu einem Fantasyepos, das seinesgleichen sucht. Schonungslos und wortgewaltig entführt N.K. Jemisin den Leser in eine enorm grausame, düstere und im wahrsten Sinne des Wortes zerrissene Welt, deren gesellschaftliche Strukturen trotz ihrer Fremdheit hochaktuell sind.
Fakten
(Werbung, unbezahlt)
Reihe: Die große Stille, Band 1 von 3
Originaltitel: The Fifth Season. The Broken Earth Trilogy.
Verlag: Knaur
Erscheinungsdatum: 01.08.2018
ISBN: 9783426521786
Preis: 14,99 €
Klappenbroschur, 496 Seiten
weitere Formate: eBook und Hörbuch
Genre: High Fantasy, Dystopie
Übersetzung: Susanne Gerold
Über die Autorin
N.K. Jemisin lebt in New York City. Sie studierte Psychologie und arbeitet heute unter anderem für die New York Times. Ihre Romane wurden mehrfach mit renommierten Preisen ausgezeichnet, wie dem Hugo Award.
- Zitat: S. 9
- Zitat: S. 23
- Zitat: S. 89